Geprägt für das weitere Leben

Clara Illi berichtet über ihre Zeit in Nicaragua, als Freiwillige im Projekt Sí a la Vida in Managua:

“Nach meinem Abitur 2013 stand für mich die Entscheidung fest: Ich wollte einen Freiwilligendienst in einem Entwicklungsland machen! So landete ich mit Hilfe der deutschen Organisation SiembraFutura im Projekt Sí a la vida in Managua, Nicaragua. Dort arbeitete ich von Anfang November 2013 bis Ende April 2014 mit Jungen aus schwierigen sozialen Verhältnissen, Straßenkindern im Alter von 7 bis maximal 15 Jahren.

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Der vorausgehende, einmonatige Sprachaufenthalt in Guatemala war sehr erfahrungsreich und eine tolle Einstimmung für Nicaragua.
Die Jungen in meinem Projekt waren sehr herzlich und offen mir gegenüber und scheuten sich nicht vor dem Kontakt zu einer zunächst fremden Person. Dennoch musste ich mir ihren Respekt zu Beginn erst einmal hart erkämpfen, da sie von daheim kaum Erziehung erfahren und dadurch auch kaum Werte oder Regeln kennen.
Besonders die morgendliche Schulvorbereitung hat viel Kraft gekostet und mich auch manchmal sehr nachdenklich gemacht, wenn ich zum Beispiel feststellen musste, dass ein dreizehnjähriger Junge noch nicht lesen konnte.
Da im Projekt meist nur ca. 10 Kinder lebten, konnte man sie sehr gut individuell fördern – natürlich mit Unterstützung des Psychologen. Die Arbeit mit den Kindern und ihre Resozialisierung haben mich sehr geprägt und mich Geduld gelehrt. Es ist schrecklich, auf dem Weg durch die Hauptstadt Managua in jedem Bus und fast an jeder Ampel verkaufende oder akrobatische Straßenkinder zu sehen oder Kinder, die mit Plastikflasche und Abzieher die Autofenster putzen, obwohl sie noch so klein sind, dass sie auf Hockern kaum die Autoscheiben erreichen. Andererseits habe ich aber auch in Nicaragua erfahren, wie schlecht manchmal mit Geld umgegangen wird und wie zum Beispiel der für mich unwichtige Fernseher überlebensnotwendig erscheint. So haben auch die ärmsten Wellblechhütten in der nicaraguanischen Einöde oft eine riesige Satellitenschüssel auf dem Dach. Vermutlich muss man hier von Eskapismus, von Realitätsflucht reden. Dennoch habe ich mich sehr angestrengt, den Jungen in meinem Projekt eine Alternative zum Fernsehen zu bieten und ihren Nachmittag mit Spielen, Sport oder kreativen Arbeiten wie Zeichnen, Basteln, Hängematte – und Armbandknüpfen zu füllen.
Mit einem neuen Mitarbeiter (Eddie Medina), der selbst in einem ähnlichen Projekt aufgewachsen ist, ging ich auf die Straße und in Schulen, um dort nach anderen Kindern Ausschau zu halten, die vielleicht unsere Hilfe benötigen. Wir besuchten Familien und konnten so einen direkten Einblick in ihre Schwierigkeiten erhalten. Auch Eltern, die sich kaum um ihre Kinder kümmern, deren Kinder nicht mehr zu Schule gehen, sondern stattdessen den ganzen Tag auf der Straße herumlungern, schicken ihr Kind nur mit viel, viel Überredungsarbeit in ein Projekt wie Sí a la Vida.
In der zweiten Hälfte meines Freiwilligendienstes konnte endlich ein von mir mitorganisiertes Renovierungsprojekt starten! Ich war überglücklich! Allerdings musste ich bald feststellen, dass ich meine Ansprüche herunterschrauben musste, denn in Nicaragua herrschen nun einmal andere Regeln. Wenn hier einige Kacheln in der Küche verrutschen und dann plötzlich schräg zu einander verlaufen, Regalbretter schräg eingebaut werden oder beim Streichen der Wände auch alle anderen Objekte Spritzer abbekommen, macht das nichts. Dies nur als Beispiel der erlebten unorganisierten, chaotischen Art, die mich in manchen Momenten fast zur Verzweiflung getrieben hat. Fast alle erzählten Erfahrungen beruhen auf den Erlebnissen mit der ärmeren Schicht Nicaraguas, in der ich die meiste Zeit verbrachte.
Der Kontakt zu den verhältnismäßig Wohlhabenden und Gebildeten in Nicaragua war ein wichtiger Gegenpol zu meinen sonstigen Erfahrungen. Dort habe ich eine westliche, uns sehr ähnliche Lebensform angetroffen. Dieser Kontrast hat mich oft geschockt. Leben wir doch im Vergleich dazu in einer „relativ“ ausgeglichenen Gesellschaft und bemühen uns um bzw. unterstützen sozial schlechter gestellte Menschen.
Viele Mädchen der großen Armenschicht bekommen sehr früh, manchmal schon mit 12 Jahren, ihr erstes Kind. Als ich mit meinen 18 Jahren im Viertel Villa Austria in Nicaragua ankam, wurde ich zwar einerseits noch als junges Mädchen, als „niña“ belächelt, doch andererseits schien es für viele arme Nicaraguaner erstaunlich, eine Achtzehnjährige anzutreffen, die noch kein Kind hat. In Deutschland machen wir uns so viel Gedanken um die Verantwortung und Konsequenzen, die ein Kind mit sich bringt. Beinahe scheinen bei uns Kinder in unserer durchdachten, rationellen und karriereorientierten Welt in den Hintergrund zu rücken. Die jungen nicaraguanischen Eltern haben oft die Schule abgebrochen, leben nun bei ihren Eltern, die sich selbst kaum über Wasser halten können und haben keine Arbeit – Stress oder Sorgen in Anbetracht des neuen Familienzuwachses sind überraschenderweise jedoch meistens nicht zu spüren.

Macht Geld wirklich glücklich?

Mir ist klar geworden, dass ich in der Zukunft nicht unbedingt möglichst viel verdienen und eine steile Karriere hinlegen möchte, sondern dass ich gerade als Ärztin dazu beitragen möchte, dass die Welt ein kleines Stückchen besser wird. Ich möchte mich dort engagieren, wo ich direkt „helfen“ kann, z.B. bei „Ärzte ohne Grenzen“. Dies mag idealistisch klingen, aber ohne Idealismus und ohne Wünsche, Träume, Hoffnungen, die über das rein private und eher selbstbezogenes Glück hinausgehen, wäre mir mein Leben zu orientierungslos.
Während meines Aufenthaltes dort ist mir bewusst geworden, wie selten mir bisher eine solche Herzlichkeit und Offenheit begegnet ist und wie verschlossen wir Deutschen doch im Gegensatz dazu oft auf Neues reagieren. In Nicaragua habe ich in einer Gastfamilie gewohnt, doch ehrlich gesagt fühlte ich mich bald kaum mehr als Gast, denn ich wurde sofort ganz selbstverständlich in alles eingegliedert und integriert. So konnte ich nicht nur Spanisch lernen, sondern auch alle Probleme des nicaraguanischen Lebens direkt erfahren. Ich habe erlebt, wie Armut spätestens dann zum Problem wird, wenn jemand ernsthaft krank ist. Für die einfacheren Krankheiten reicht die oft schlechte, öffentliche medizinische Versorgung zwar noch, die es immerhin gibt. Doch schon bei einfacheren Operationen kommt es zu Komplikationen. Kranke arme Menschen haben meist keine Chance, geheilt zu werden.
Während meines Aufenthaltes in Mittel – und Lateinamerika hat sich mein Blick auf die Menschen hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Art und Kultur geändert. Die Vielfalt der Menschen ist schon innerhalb eines Volkes unglaublich groß und begeistert mich. So suche ich auch jetzt in Deutschland immer mehr den Kontakt zu Menschen aus fremden Kulturen, da sie einen nur bereichern können! Außerdem habe ich am eigenen Leib erfahren, wie positiv oder negativ Einheimische auf Ausländer regieren können und wie schön es für einen Fremden ist, wenn ihm jemand das unbekannte Land zeigt. So konnte ich Einblick in die verschiedensten Bereiche des nicaraguanischen Lebens bekommen, was auch manchmal schockierend und traurig war, da es keine einfachen und schnellen Lösungen für die tiefgreifende und strukturelle Armut gibt. Viele „unserer“ Kinder fallen nach dem Verlassen von Sí a la Vida wieder in ihr altes Leben zurück. Der Versuch, sie in ein normales Familien – und Berufsleben einzuführen, ist in dem unveränderten, armen Umfeld sehr schwierig und scheitert leider immer noch sehr häufig. Dennoch darf man niemals den Mut und die Hoffnung verlieren, was für mich zu Beginn manchmal schwierig war.
In meinem Freiwilligendienst habe ich nicht nur eine fremde Kultur und Lebensweise kennengelernt, sondern konnte auch meine sozialen und interkulturellen Kompetenzen stärken.
Ich bin mutiger, freier, vielleicht in gewisser Weise auch frecher geworden, weil ich mich mehr traue, auch „widerständig“ zu sein, nachzufragen, anzuecken. Vielleicht sehe ich mein Leben jetzt aus einem anderen Blickwinkel, werde mir der Engstirnigkeit und Unzufriedenheit vieler Deutscher bewusst, erkenne die weitverbreitete „Neidkultur“ besser. Wir leben in einer so gut organisierten, politisch und religiös freien, offenen, toleranten, lebendigen und verhältnismäßig wohlhabenden Gesellschaft. Viele beschweren sich über Kleinigkeiten und sind oft nicht glücklich mit dem, was sie (erreicht) haben – dies ist Jammern auf höchstem Niveau. Die Leute wissen ihr Glück ganz offensichtlich nicht zu schätzen. Der Blick von außen auf Deutschland hat mir sehr gut getan. Ich denke, der Aufenthalt wird mich ein Stückweit für meine weitere Zukunft prägen.”

Wir danken Clara für diesen sehr lebendigen und persönlichen Bericht, vor allem aber auch für ihr so wertvolles Engagement in Nicaragua!

Auf ihrer Website erzählt Clara von ihrer Zeit in Mittel- und Lateinamerika.